von Jana Bamberger, Master Studierende im Bereich „Soziologie und Sozialforschung“ an der Universität Marburg

Jeden Tag zur Arbeit gehen und trotzdem nichts in der Tasche haben – für zahlreiche Pflege- und Heimkinder ist dies bittere Realität. Während andere Jugendliche jobben gehen, um sich Geld für den Führerschein, Kinobesuche oder ein neues Handy zusammenzusparen, müssen sie 75% ihres Einkommens an das Jugendamt abgeben. Oftmals bleibt dann nur ein umgerechneter Stundenlohn von 2,75 € übrig.

„Ich sehe auf dem Konto die ganze Zeit null, null, null“

Grund für die Abgaben ist, dass Pflegeeltern, welche Pflegekinder in ihre Familie aufnehmen, finanzielle Unterstützung in Form von Pflegegeld durch das Jugendamt erhalten. Je nach Alter des Pflegekindes liegt dieser Betrag zwischen 508,00 € und 676,00 € monatlich. Hinzu kommt ein Erziehungsbeitrag von weiteren 237,00 € pro Monat. Bei Pflegekindern, die Geld verdienen, möchte sich der Staat dieses Geld zurückholen und langt ordentlich zu. So müssen nahezu alle Kinder, die in Deutschland in einer Pflegeeinrichtung oder Pflegefamilie leben, 75% ihres Einkommens abgeben – unabhängig davon, ob sie arbeiten, einen Nebenjob haben, eine Ausbildung machen oder einen Bundesfreiwilligendienst oder ein FSJ absolvieren.

Gesetzliche Grundlage ist gegeben

Im achten Sozialgesetzbuch in Paragraf 94 wird hierzu geregelt, „dass junge Menschen und Leistungsberechtigte bei ‚vollstationären Leistungen‘ insgesamt ‚75% ihres Einkommens als Kostenbeitrag einzusetzen‘ haben.“ (Ustorf 2018) Von dieser Regelung sind in Deutschland derzeit etwa 142.000 Heimkinder und 90.000 Pflegekinder betroffen.

Wenn diese jugendlichen Pflegekinder also in einem Café jobben, Zeitungen austragen oder im Supermarkt Konserven in Regale räumen, um ihr Taschengeld aufzubessern oder für den Führerschein zu sparen, gehen drei Viertel ihres Einkommens direkt an das Jugendamt. Auch bei einer Ausbildung müssen sie 75% ihres Gehaltes abgeben, wenn sie noch bei ihren Pflegeeltern wohnen. Pflegekinder werden zur Kasse gebeten.

„Ja, was haben wir denn getan, dass wir 75 Prozent abgeben müssen? Ich verstehe es nicht. Ich sehe einfach auf dem Konto die ganze Zeit null, null, null. Klar, bisschen kommt ja, ich will nicht sagen, dass da nichts kommt, aber dann geht die Motivation weg.“

(Serkan in Grüter 2019)

„Was kann ich denn dafür, dass ich ein Pflegekind bin?“

Die 75%-Klausel wird von den Kindern und Jugendlichen als ungerecht empfunden und kann darüber hinaus das Gefühl „nicht-richtig-zur-Familie- dazuzugehören“ enorm verstärken. Zudem bremst die Regelung Jugendliche in ihrem Weg in die Selbstständigkeit aus und erschwert die Vermittlung, dass sich harte Arbeit lohnt. Pflegekinder werden zur Kasse gebeten, wer soll ihnen diese Praxis erklären?

Die folgenden Zitate drücken das ganze Unverständnis der Betroffenen aus

„Alle meine Freunde jobben, um sich was dazuzuverdienen. Keiner von ihnen muss seinen Eltern etwas abgeben. Aber ich soll jetzt beim Amt für meine eigenen Kosten aufkommen. Was kann ich denn dafür, dass ich ein Pflegekind bin?“

(Felix Warnke in Ustorf 2018)

„Es ist doch ein Zeichen von Reife und Verantwortungsbewusstsein, wenn sich ein Kind einen Job sucht, um eigene Bedürfnisse selbst erfüllen zu können. Stattdessen muss Felix nun dafür haften, dass seine leiblichen Eltern nicht in der Lage sind, sich um ihn zu kümmern. Damit ist er doppelt benachteiligt, auch gegenüber seinen Geschwisterkindern.“

(Andrea Wagner (Felix Pflegemutter) in Ustorf 2018)

Viele Pflegekinder können auf diese Weise kaum Motivation aufbringen eine Arbeit zu suchen oder brechen ihren Job wieder ab, wenn sie erfahren: Pflegekinder werden zur Kasse gebeten und das gleich mit 75%.

„Man gibt den jungen Menschen das Gefühl, dass es sich nicht lohnt zu arbeiten. So erzieht man weitere Sozialhilfeempfänger.“

(Kirsten Willruth in Seitler 2018)

Einige Kinder gehen sogar in ihre Herkunftsfamilien zurück, nur um ihr Gehalt vollständig behalten zu können.

„Neulich ist ein junger Mann zurück zu seiner alkoholkranken Mutter gezogen, damit er sein Ausbildungsgehalt vollständig behalten darf.“

(Carmen Regglin in Ustorf 2018)

Eine große Problematik der 75%-Klausel ist zudem, dass Careleaver für ihre ersten eigenen vier Wände nur selten finanzielle Rücklagen bilden können, wodurch ihnen der Übergang in das Erwachsenenalter stark erschwert wird. Damit wird auch das Engagement der Pflegefamilien indirekt in Frage gestellt. Pflegekinder werden zu Kasse gebeten, es macht einfach keinen wirklichen Sinn.

Antrag auf Befreiung der Kostenheranziehung

Eine Möglichkeit, um sich von der Kostenheranziehung teilweise oder sogar ganz befreien zu lassen, besteht darin einen Antrag beim Jugendamt einzureichen, in welchem ein ausführlich begründeter Widerspruch eingelegt wird. Ein derartiger Antrag kann erfolgreich sein, wenn die Tätigkeit dem Ziel der persönlichen Weiterentwicklung und somit dem „Zweck der Jugendhilfe“ (Ustorf 2018) dient.

Hierunter fällt beispielsweise das Sparen für einen Führerschein. Darüber hinaus kann eine Befreiung erfolgen, wenn bei der ausgeübten Tätigkeit  das soziale oder kulturelle Engagement im Vordergrund steht, wie beispielsweise bei einem FSJ oder dem Bundesfreiwilligendienst.

Beratung suchen

Grundsätzlich ist es jedoch die Entscheidung der zuständigen Jugendamtsfachkraft, ob und inwieweit auf die Anrechnung des Einkommens verzichtet wird. Es empfiehlt sich daher die Pflegefamilienberatung zur Hilfe heranzuziehen, da sich diese mit Einzelheiten der gesetzlichen Bestimmung auskennt und bei der inhaltlichen Begründung des Antrags helfen kann. Ebenfalls gibt es in einigen Bundesländern Ombudsstellen.

Obwohl ein derartiger Antrag das gute Recht jedes Pflegekindes ist, müssen viele Pflegekinder dazu ermutigt werden, einen Antrag zu stellen, da ihr Selbstwertgefühl oftmals angeschlagen und die Angst vor einer Zurückweisung groß ist. Zudem ist die Möglichkeit eine Befreiung/Reduzierung der Kostenheranziehung zu beantragen, vielen Jugendlichen und auch einigen pädagogischen Fachkräften oftmals gar nicht bekannt.

Visionen

Seit Jahren wird im deutschen Bundestag über eine Verbesserung der Gesetzeslage debattiert. Während sich einige Parteien für eine komplette Abschaffung der Kostenbeteiligung einsetzen, halten andere an der Kostenheranziehung fest.

Im Jahr 2017 erließ der Bundestag im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz eine Regelung, laut welcher Pflegekinder nur noch maximal die Hälfte ihres Einkommens abgeben müssen. Diese Regelung erfuhr vom Bundesrat bisher jedoch keine Zustimmung und wird vermutlich auch in naher Zukunft nicht durchgesetzt werden.

Für die Zukunft besteht demnach noch ein großer Handlungsbedarf im Bereich der Rechtslage. Es müssen Maßnahmen erschaffen werden, die der enormen Einkommensabgabe von Pflegekindern entgegenwirken, da diese ein Zugehörigkeitsgefühl  nahezu unmöglich macht. Durch Abgaben von 75% des Verdienstes wird die Motivation von Pflegekindern in höchstem Maße gehemmt und eine positive Entwicklung der Kinder und Jugendlichen eher beeinträchtigt statt gefördert.

Quellen

Grüter, Susanne (2019): Heim- und Pflegekinder. Ein Euro für mich, drei fürs Jugendamt. URL: https://www.deutschlandfunk.de/heim-und-pflegekinder-ein-euro-fuer-mich-drei-fuers.724.de.html?dram:article_id=455499, Abruf am 19.09.2019.

Land Hessen (2019): Pflegekinder und Pflegeeltern. URL: http://www.familienatlas.de/eltern-erziehung/pflegschaft-adoption/pflegekinder-und-pflegeeltern, Abruf am 19.09.2019.

Schnieder, Milan (2018): Pflegekinder müssen zahlen. Eigenes Einkommen wird angerechnet. URL: https://www.zdf.de/politik/frontal-21/pflegekinder-muessen-zahlen-100.html, Abruf am 11.09.2019.

Seitler, Pia (2018): Der Staat langt zu. Einkommen von Pflegekindern. URL: https://www.spiegel.de/panorama/pflegekinder-muessen-75-prozent-ihres-einkommens-dem-jugendamt-zurueckgeben-a-1232584.html, Abruf am 11.09.2019.

Ustorf, Anne-Ev (2018): 2,75€ Stundenlohn – und der Rest fürs Jugendamt. URL: https://www.sueddeutsche.de/karriere/pflegekinder-gehalt-steuern-1.4241789, Abruf am 11.09.2019.

Werner, Christine (2014): Pflege- und Heimkinder müssen zahlen. URL: https://www.swr.de/swraktuell/jugendamt-pflege-und-heimkinder-muessen-zahlen/-/id=396/did=13661362/nid=396/1xbqfbw/index.html, Abruf am 19.09.2019.

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